Beizensprint 09

“Elf Uhr, wir stehen am Berg. Der Himmel ist eisblau, die Luft eiskalt. Weit oben am Hang klebt Schee. Da sollen wir jetzt also hoch: an den Fuss des Piz Kesch. Laut Wanderführer dauert die Wanderung gut zweieinhalb Stunden und führt über acht Kilometer und 840 Höhenmeter durch Lärchenwälder und Bergtäler auf 2594 Meter über Meer. Dort wollen wir einer SAC-Hütte übernachten.” – Halt, Stopp!!! Das ist ja gar nicht der richtige Bericht zum Beizensprint…

Noch sitze ich im Zug und lese gerade das Friday von 20 Minuten. Ein Bericht sticht mir besonders ins Auge: “Alle wandern, wir auch – Fünf Städter am Berg”. Ich kann mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen… Piep, Piep! Eben erreicht mich ein SMS. Thomas meint, dass er und Romeo wahrscheinlich mit einer kleinen Verspätung in Wil eintreffen werden. Ich solle doch noch kurz ein paar Sachen für den Samstag einkaufen.

Nachdem ich die gewünschten Lebensmittel besorgt habe, warte ich nun am Bahnhof auf die beiden. Ich freue mich gerade an den Sonnenstrahlen, welche mir die Abendsonne zwischen den Wolken entgegenschickt. Schliesslich hat der Wetterbericht eher schlechte Witterung vorausgesagt und noch hängen Nebel und Wolken in den Bergen fest.

Mit Romeo und Thomas geht's weiter nach Starkenbach im Toggenburg. Das GPS gibt an, das wir um 1822 beim Seilbähnli eintreffen werden. Wir wären auch pünktlich dort gewesen, hätte wir nicht noch die letzte Ausfahrt verpasst und somit eine Minute Verspätung eingefangen… Wir schauen den Drahtseilen der Seilbahn nach oben. Die Seile scheinen im Nichts zu enden, so fest haben sich die Wolken festgesetzt. Mutig steigen wir uns in die kleine Gondel. Und schon geht die Fahrt los nach oben. Als wir in die Wolken fahren befürchten wir schon das Schlimmste, dass uns das Bähnchen in die Ewigen Jagdgründe trägt. Plötzlich lichten sich die Wolken und strahlend blauer Himmel empfängt uns in der Bergstation! Nur schon dieser Anblick war die ganze Mühe der Anreise wert.

Nach wenigen Schritten kommen wir bei unserem Ziel, dem Wildmannli auf dem Strichboden, an. In der Wirtschaft besänftigen wir mit einem feinen Nachtessen unseren Hunger und löschen den Durst mit vergorenem Gersten- und Apfelsaft. Natürlich können wir es nicht lassen und so quälen wir den Jassteppich mit einem “Büter”. Eifrig bieten wir, Stich um Stich, um die Wette. Viele dumme Sprüche später und einige Matche mehr getrauen wir uns doch noch, unser Spiel zu beenden. Während wir den Sternenhimmel bestaunen, beschliessen wir am nächsten Morgen früh um Fünf aufzustehen, um auf dem Selun den Sonnenaufgang bestaunen zu können. Plötzlich erspähe ich eine Sternschnuppe. Naja – ich sag euch jetzt nicht, was ich mir gewünscht habe ;-) Schliesslich verkriechen wir uns müde in den Federn.

Piep, Piep, Piep, Pieeeep! Piep, Piep, Piep, Pieeeep! Romeo's Wecker reist mich jäh aus den schönsten Träumen. Eilig stehe ich auf und schaue durch die Türe zum Himmel. Es herrscht noch tiefste Nacht – kein Wunder, in dieser Herrgottsfrühe! Die Sterne blinzeln mir entgegen, doch dort im Westen trüben feine Schleierwolken etwas die Sicht auf die Sterne. Ich teile die Beobachtungen meinen Kameraden mit und beginne mich auf die Wanderung vorzubereiten. Mit meiner Eile reisse ich Romeo noch den letzten Nerv aus – er liegt nämlich noch immer im Schlafsack… Wir beschliessen, trotz den leichten Schleierwolken aufzustehen und den Selun zu besteigen. Bald sind wir alle bereit und marschieren schliesslich um etwa zwanzig nach Fünf mit einer sehr sportlichen, leichten Packung los.

Durch die Dunkelheit geht es über Stock und Stein nach oben. Immer wieder müssen wir nach den Wanderwegzeichen ausschauen. Erschwerend kommt dazu, dass die Taschenlampe von Thomas schon nach den ersten paar Metern ihren Geist aufgibt. Vor allem im Anfangsbereich ist der Weg zwischen den Steinen und Bäumen schlecht sichtbar. Trotzdem kommen wir schnell voran und stetig geht es nach oben. Zwischendurch frage ich nach, ob es denn eine Ebene nach der ersten Steigung gibt. Da entgegnet mir Romeo, dass ich mir den Weg so vorzustellen habe, wie bei einer Frau, bei der man vom Po zum Kopf hoch geht. Welch schöner Gedanke! Er verfolgt mich noch bis oben auf den Selun.

Zunehmend bleibt der feuchte, lehmige Boden in den Sohlen meiner Wanderschuhe hängen. Nicht, dass die Schuhe dadurch wesentlich schwerer werden, doch rutsche ich immer wieder etwas ab. Thomas sagt mir, ich solle kleinere Schritte nehmen, doch irgendwie fällt mir dies nicht gerade leicht.

Vor dem letzten Anstieg auf den Gipfel legen wir eine kurze Pause ein. Der Wind bläst uns streng entgegen. Wir schauen ins Tal und sehen überall die Lichter in den Dörfern. Langsam erwacht die Welt und es beginnt zu Tagen. Den Weg können wir nun ohne Hilfe einer Taschenlampe sehen.

Schliesslich gelangen wir um etwa Viertel nach Sechs oben auf dem Gipfel an. Ich ziehe meine Windjacke an, um mich nicht zu erkälten. Hier oben bläst der Wind noch stärker als im Tal. Im Osten können wir ein erstes Röten des Himmels wahrnehmen. Im Süden sehen wir den Walensee. Langsam bildet sich Nebel über dem See. Im Tal hören wir das Röhren von Wildtieren. Wie wir später von Jägern erfahren werden, sind es die Hirsche, welche in der Brunftzeit um die Aufmerksamkeit der Weibchen kämpfen. Mit kalten Fingern versuche ich, einen Eintrag ins Gipfelbuch zu machen, doch der Kugelschreiber weigert sich vehement, so dass ich ihm nur wenige Buchstaben entlocken kann. Immerhin gelingt es mir gerade noch, das Wichtigste aufs Papier zu bringen.

Gebannt warten wir aufs Aufgehen der Sonne. Mit Verdruss müssen wir aber feststellen, dass wir uns den falschen Berg ausgesucht haben – die Sonne verbirgt sich nämlich genau hinter den anderen Churfirsten! Wir beschliessen nicht mehr weiter auf die Sonne zu warten und steigen wieder ins Tal ab. Unterwegs halten wir Ausschau nach dem Weg zum Frümsel. Irgendwo muss es doch eine Stelle geben, an der man ohne Abstieg bis zur Alp zum Frümsel gelangen kann. Schliesslich finden wir die Stelle. Nur den Insidern bekannt, ist sie nicht mit den herkömmlichen weiss-rot-weissen Bergwanderwegzeichen, sondern nur mit einem leuchtend orangen Pfeil, markiert…

Der weitere Weg führt uns zum Wildenmannlisloch. Hier hauste einst Johannes Seluner, zurückgezogen von jeglicher Zivilisation. Nicht mal sprechen soll er gekonnt haben. Wir können es nicht lassen und steigen in diese Höhle ein. Das Wildenmannlisloch gleicht einem langen Schlauch. Der Boden ist feucht und lehmig. Je weiter wir ins Dunkle vordringen, deste mehr Wasser hat sich am Boden gesammelt. Stellenweise hat es Bretter am Boden, damit man nicht nasse Füsse bekommt. Mir bereitet dieses seichte Wasser keine Probleme, trage ich doch meine wasserdichten Wanderschuhen. Doch Thomas und Romeo vollführen die tollkühnsten Verrenkungen und machen teilweise sogar kleine Klettereien, um nicht mit den Turnschuhen ins Wasser zu stehen. Und das alles im schwachen Licht der Taschenlampe… Wieder am Tageslicht begutachten wir unsere schmutzigen Kleider und machen uns wieder auf den Rückweg zu unserer Unterkunft.

Das Frühstück erwartet uns schon. Wir geniessen die reichhaltigen Speisen in den wärmenden Strahlen der Morgensonne. Anschliessend legt sich Romeo noch etwas schlafen, während Thomas und ich die “Idüühllée” geniessen. Die Nebelwolken drücken vom Tal her hoch und ab und zu scheinen sie uns zu verschlingen zu wollen.

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