U "Beresina" / 03

Wir schreiben den 20. Oktober 1812: Die "Grande Armée" Napoleons befindet sich auf dem Rückzug des Russlandfeldzuges. Ebenso das klein gewordene Heer St. Cyrs, dem Schweizer Legionäre angehören und das sich befehlsgemäss gegen Süden zurückzieht, um sich mit der "Grande Armée" zu vereinigen. Sich entgegenstellende Truppen werden zurückgeschlagen und etwelche Nachgeplänkel gehören zur Tagesordnung. Der wieder genesene Oudinot übernimmt vom verletzten St. Cyr das Kommando. Er erreicht mit dem 2. Korps am 24. November Borisow, wo die fliehenden Russen noch Zeit fanden, die Brücken über die Beresina zu zerstören. Somit ist für die Armee Napoleons der Rückweg abgeschnitten. Bestürzt müssen die Soldaten des 2. Korps zusehen, welch jämmerliche Gestalten sich als Überreste der "Grande Armée" an der Beresina stauen. Inklusive des 2. Korps sind noch knapp 40'000 Mann wehrfähig. Diesen stehen 130'000 Russen gegenüber, wobei die Armee Tschiganow das rechte und Kutusow das linke Beresina-Ufer besetzen. Zudem naht von Norden die Armee Wittgensteins. Die Sappeure müssen bis zu den Schultern im Eisschollen treibenden Wasser der Beresina stehend, zwei 100 m lange Bockbrücken bauen. Fast die Hälfte der Genietruppen werden für dieses notwendige Werk geopfert. Am 26. November setzen die ersten Truppen über die Beresinabrücken. Sofort wird auf dem rechten Ufer ein Brückenkopf gebildet. Am 28. November 1812 versuchen 40'000 Russen die Linien zu durchbrechen und ein Gros der französischen Armee den Übergang über die Beresina. Sieben sibirische Schützenregimenter eröffnen das Feuer. Die Schweizer, die auf französischer Seite gegen die Russen kämpfen und denen der Auftrag zukommt, die Brücken unter allen Umständen zu verteidigen und damit den Franzosen den Übergang für den Rückzug zu ermöglichen, leiden an Munitionsmangel. Die Linien beginnen zu wanken. Durch den Sturm mit dem Bajonett wird etwas Luft geschaffen. Die Russen ziehen sich vorübergehend zurück, um die Stellungen später noch intensiver zu berennen. Noch sieben Mal wird an diesem Tag zum Bajonettangriff getrommelt. Der Tag scheint endlos und die Leiden wollen nicht aufhören. Rot färbt sich der Schnee vom Blut und den Uniformfetzen der rot eingekleideten Schweizer. Ein letzter Bajonettangriff vor dem Einnachten bleibt im heftigen Abwehrfeuer stecken, doch bringt er die dringend benötigte Gefechtspause. Noch 300 Mann - die meisten verletzt - melden sich, als zur Sammlung geblasen wird. Das Klagen Verwundeter zerrt an den Nerven der schlotternd umherstehenden Überlebenden. Am Vormittag des 29. November 1812 werden die Brücken verbrannt. Der kleine Rest der roten Schweizer begleitet die "Grande Armée" als Nachhut in die Heimat. Heroisch hatten sie gekämpft und gelitten. Keine Fahne, kein Feldzeichen liessen sie in Russland zurück. Dies dürfte ihnen mehr Genugtuung bedeuten, als die 62 Kreuze der Ehrenlegion, die ihnen verliehen werden. Der Krieg war verloren, aber die Schweizerregimenter dürfen stolz sein, die ihnen gestellten Aufträge bis zur Selbstaufopferung erfüllt zu haben.

Fast 200 Jahre später, am 15. Februar 2003 heisst es für Daniela und mich um 0430 Uhr Tagwache. Nicht nur der Mut unserer Vorfahren schaudert uns, sondern auch die um diese Zeit noch nicht aufgewärmten Räume unserer bescheidenen Wohnung in Küsnacht am Zürichsee. Eben wach geworden, packen wir sofort das nötige Zeugs für die uns bevorstehende U "Beresina" zusammen und richten uns einen Zmorgen zum Mitnehmen, den wir auf der Fahrt nach Schaffhausen, die wir um 0545 Uhr antreten, vertilgen.
Drei Minuten zu früh, um 0627 Uhr, treffen wir auf dem verabredeten Parkplatz an der Laag ein, noch immer ist es dunkel und uns fröstelt's von der Biese, die uns um die Ohren saust, als wir aussteigen, um nach unseren Kameraden Ausschau zu halten. Vorerst ist jedoch keine Spur von ihnen zu sehen. Um 0630 Uhr dann das erste Lebenszeichen von Alle: Ein Telefonanruf. In mir werden Erinnerungen wach, an jenen denkwürdigen Morgen, als ich mit ihm an einen Wettkampf fahren wollte und bei mir zu Hause im Ausgangs-Tenu vergebens auf ihn, meinen Patrouillenpartner, wartete. Damals weckte ich mich auf, um dann anschliessend wieder schlafen zu gehen. Doch diesmal heisst es am anderen Ende des Telefons zumindest, dass es etwas später werde. Alle ist noch beschäftigt – gut, dann rauch ich eben noch eins. Dabei werde ich gestört durch eine dunkle Gestalt, die sich ihren Weg von der Laag hoch zum Parkplatz durch den Schnee bahnt. Es ist Rolf, der, wie sich herausstellt, wegen eines Autodiebstahls nur auf leisen zwei Rädern zum Treffpunkt kommt. Nochmals klingelt’s und wieder ist es Alle. Er hat ein Problem, sagt, seinen Wagen am Strassenrand parkiert zu haben und meint damit, ihn nicht mehr aus dem Morast zu bringen.

Während nun Alle mit seinem Problem beschäftigt ist, machen wir uns auf den Weg zur Hemishofener Brücke, wo uns Romeo in Empfang nimmt. Durchs Fahrverbot gelangen wir zum Ausgangspunkt. Daniela kommt dank der nun langsam erwachenden Morgensonne schon ihrer Tätigkeit als Fotografin nach, während wir Männer das Schlauchboot auf den Einsatz vorbereiten. Nach einer von Romeo kurz gehaltenen Theorie über Brückensprengungen im Ernstfall gehen wir die Eisenbahnbrücke besichtigen. Dort erklärt er uns im Praktischen, die zuvor auf einer Planskizze gemachten Erläuterungen. Genaueres wird hier aufgrund der Geheimhaltung nicht bekannt gegeben. Beim Begehen der Brücke auf dem Fussgängersteg, was eigentlich mit einer Tafel verboten wäre, läuft mir das Lied des Films "Die Brücke von Remagen" nach. Doch Hauptmann Schmidt vom Brücken-Sicherungskommando ist hier nicht anzutreffen. Auch sonst ist es verdammt ruhig, denn ausser uns mühte sich niemand ab, bei dieser Saukälte ins Freie zu gehen. Die Stimmung ist, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Der Rhein tief unter uns dampft und Daniela muss sich wegen ihrer Höhenangst ans Rheinufer verdünnisieren. Frieren kann sie ja auch dort. Endlich machen sich Romeo und Rolf daran, die Seile einzurichten, bis wir von unserem Adlerhorst aus unsere beiden anderen Kameraden eintreffen sehen. Kurt ist hier und auch Alle hat’s geschafft. Ein unentwegter Bauer half ihm, ohne grosses Aufsehen zu erregen, mit seinem Traktor aus dem Schlammassel.

Nun wird die Gruppe zweigeteilt. Alle kommt mit Rolf und mir auf die Brücke zurück und überarbeitet die Seile. Derweil wassern Kurt, Romeo und Daniela das Schlauchboot.

Gerade noch kann ich aus meiner zum bersten gefüllten Blase aus 30 Meter Höhe Wasser lassen, bevor unsere Seebären unter uns am Brückenpfeiler Stellung beziehen. Denn es gilt ja, sich von der Brücke direkt ins Boot abzuseilen.

Nachdem ich mich über die Funktionalität der diversen Seile versichert habe, darf ich mich als Erster in die Tiefe wagen. Der Spass dauert ganze dreissig Sekunden, bei einer Stunde Vorbereitung. Doch kommt mir in der Unbeschwertheit nur eins in den Sinn: "My Way" von Frank Sinatra. Nachdem mich Romeo in Empfang genommen hat, nimmt er nochmals den Weg nach oben unter die Füsse, um sich gleich kurz darauf wieder hinunterzustürzen. Plötzlich gehen Raketen los, dicker Rauch umhüllt die Brücke und aus den Wolken kommen schliesslich auch Rolf und Alle zu uns Erdbewohnern. Schnell können wir uns noch eine warme Bouillon zu Gemüte führen und flussabwärts nach Diessenhofen rudern. Auf halber Strecke warten uns Alle und Romeo, die uns vorausgeeilt sind, damit wir am Ankunftsort ein Fahrzeug stehen haben, mit Nuss- und anderen Gipfel auf. Diese verschlingend, nehmen wir auch noch den Rest unter die Ruder und nicht nur Romeos Nackedei-Geschichten aus früher Jugendzeit halten uns an diesem wunderschönen Morgen bei guter Laune. Leider müssen wir dann schon bald wieder retablieren, denn wir Ordnungshüter werden an unseren Arbeitsplätzen erwartet, um nicht zu sagen gebraucht.

Allen, die sich für diese geile Übung ins Zeug legten, sei an dieser Stelle mein herzlicher Dank ausgesprochen, in der Hoffnung, nächstes Jahr wieder dabei sein zu können. Was ich demnächst als erstes machen werde, wenn ich ab Mitte März wieder in Schaffhausen wohnen werde? Eine Gummibootfahrt mit Daniela auf dem hoffentlich dann noch immer dampfenden Rhein und vielleicht kommen ja auch ein paar Rentiermannen mit...

Euer Aktuar